Über das Netzwerk
Autorschaft ist das Produkt von Kollaborationen. Entgegen der um 1800 geprägten Vorstellung einer ‚reinen‘ und ‚einsamen‘ Einzelautorschaft sind die Verfasser/-innen literarischer Texte in der Regel in ein Netzwerk aus unterschiedlichen Unterstützenden und Mitarbeitenden eingebunden, die die Produktion von Anfang an mehr oder weniger stark mitbestimmen. Das reicht von der Ideenfindung über den Schreib- und Korrekturprozess, über die Vermittlung und Evaluation von Manuskripten bis hin zur materiellen Gestaltung, Ausstattung, medialen Platzierung und Vermarktung eines Werks. An der Entstehung des kulturellen Artefakts, das am Ende meist einem einzigen Autor oder einer Urheberin zugeschrieben wird, sind häufig zahlreiche Akteure mit teilweise konkurrierenden Interessen wie Freund/-innen, Partner/-innen, Mäzen/-innen, Herausgeber/- innen, Zensor/-innen, Kritiker/-innen, Verleger/-innen sowie – im modernen Literaturbetrieb – Lektor/-innen, Agent-/innen, Marketingexpert/-innen oder auch mitschreibende Fans beteiligt. In den letzten Jahren gab es in den Literaturwissenschaften ein verstärktes Interesse an solchen Kollaborationsbeziehungen. Dabei wurden vornehmlich entweder Kollaborationsformen untersucht, in denen gleichberechtigte Akteure (z.B. zwei Autor/-innen) mit gemeinsamen Absichten und Zielen kreativ zusammenarbeiten; oder aber Netzwerke mit einer Autorenpersönlichkeit im Zentrum, die scheinbar selektiv und souverän auf die Unterstützung Anderer zurückgreift. Demgegenüber will das geplante DFG-Netzwerk im Anschluss an jüngere Publikationen kollaborative Praktiken in den Blick nehmen, die sehr viel verteilter, zerstreuter und weniger koordiniert sind und bei denen die Kompetenzen und Zuständigkeiten immer wieder neu ausgehandelt werden müssen. Nicht nur die zeitliche Dynamik, die Offenheit und Instabilität literarischer Kollaborationsbeziehungen sollen dadurch stärker berücksichtigt werden, sondern auch der Umstand, dass Autor/-innen immer zugleich mehrere Interessen unterschiedlicher Adressat/-innen, Kooperationspartner/-innen und Zielgruppen im Blick behalten müssen.
Ziel des Netzwerks ist es, über einen größeren historischen Zeitraum vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart Praktiken der literarischen Kollaboration sowie die Art und Weise ihrer Diskursivierung zu beobachten. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf die Tätigkeiten von Rand- und Mittlerfiguren im Literaturbetrieb gelegt werden, denen traditionell eher keine kreativen Anteile an der Entstehung eines Werks zugeschrieben wurden, und deren Spuren allenfalls in Danksagungen, im Impressum oder auf dem Titelblatt sichtbar werden. Obwohl Agent-/innen, Lektor/-innen, Zensor/-innen oder Herausgeber/-innen in jüngerer Zeit verstärkt Interesse entgegengebracht wurde, sind ihre produktiven Anteile an der Entstehung von Werken sowie der historische Wandel ihrer Tätigkeiten insgesamt noch relativ wenig erforscht. Zudem wurde bisher primär das Verhältnis eines dieser Akteure zu einem Autor untersucht, wohingegen es zu komplexeren Konstellationen, in denen die Tätigkeiten und Erwartungen unterschiedlicher Akteure aufeinander abgestimmt werden müssen, kaum Studien gibt.
Vor diesem Hintergrund interessiert sich das DFG-Netzwerk für das Zusammenspiel und die funktionale Ausdifferenzierung kollaborativer literarischer Praktiken: Welche Kriterien liegen etwa Verbesserungsvorschlägen eines Freundes, den Anmerkungen einer Lektorin, dem Gutachten eines Agenten oder einer Verlegerin, den Leserbriefen von Fans oder den Streichungen eines Zensors zugrunde? Welche ästhetischen Normen, Gattungsmuster oder literarischen Vorbilder, welche ökonomischen oder politischen Maßstäbe sind dabei jeweils implizit oder explizit wirksam? Welchen Einfluss haben Begutachtungsverfahren von Zensor/- innen, Agent/-innen oder Verleger/-innen auf stilis5sche Eigenheiten, Plots oder Charaktere? Und wie verändern sich Texte durch die Art ihrer Formatierung, durch die Wahl des Covers, durch Klappentexte oder durch ihre Anpassung an spezifische Aufführungskontexte?
Diese Praktiken sollen nicht nur in einer synchronen Perspektive untersucht werden, sondern das Erkenntnisinteresse richtet sich auch auf die Frage nach dem historischen Wandel literarischer Kollaborationsgemeinschaften: Wie verändern sich Tätigkeiten und Zuständigkeiten im Zuge der Herausbildung eines modernen literarischen Markts sowie der Entstehung neuer Publikationsorte und Präsentationsformate? In welcher Weise gehen etwa Praktiken wie die Vermittlung oder Revision eines Manuskripts, die noch im 19. Jahrhundert überwiegend von Freund/-innen, Herausgeber/-innen oder Verleger/- innen übernommen wurden, im 20. Jahrhundert teilweise auf Agent/-innen und Lektor/-innen über? Und in welcher Weise übernehmen Leser/-innen im Zuge von Self-Publishing- Verfahren und der damit verbundenen intensivierten Interaktion zwischen Autor/-innen und Publikum die Aufgaben von Lektor/-innen oder Kritiker/-innen, die mitunter den Handlungsverlauf eines Romans, den Charakter einer Figur oder die Fortsetzung einer Geschichte mitbeeinflussen? Indem das DFG-Netzwerk den Fokus weniger auf die Akteure selbst, sondern auf die Praktiken der Kollaboration richtet, können Kontinuitäten, Transformationen oder Verschiebungen innerhalb dieser Praktiken unabhängig von definierten Positionen oder professionellen Berufsgruppen beobachtet werden.
Das DFG-Netzwerk will im Zuge der konkreten Arbeit mit Quellenmaterialien – im Austausch mit Gästen aus der Buch-, Literatur- und Medienwissenschaft – diskutieren, anhand welcher Gegenstände, Texte und Materialien sich Praktiken des Kompilierens, Streichens, der Korrektur, der Formatierung, Performanz, Evaluation oder Kritik rekonstruieren lassen und welche Probleme dabei auftauchen. Auf diese Weise soll ein besseres Verständnis dafür entstehen, wie sich kollaborative Praktiken verketten und in welcher Weise sie sich auf unterschiedliche Akteure verteilen.